
12 Januar 07, Vietnam, Phu Quoc, "DIE VERSCHWUNDENE SCHWANGERE" oder "WO SIND WIR JETZT WIEDER GELANDET?!"
Statt direkt von Vietnam nach Kambodia zu reisen, schlittern wir in ein kleines Abenteuer...Diesmal ein bisschen ausfuehrlicher:
Wir sassen endlich auf der Faehre weg von unserer geliebten Insel "Phu Quoc" im Sueden Vietnams zurueck auf das Festland, als uns John in den engen Plastiksesseln entdeckte. Ich rollte unwillig die Augen. Ich hatte den jungen Mann, der in unserem Ferien-Resort als Touristen-Guide arbeitete, nie sonderlich gemocht.
John gehoerte zu der Sorte hilfsbereiter Touristenfuerher, die sich ihr Engagement fuerstlich entlohnen liessen und mit Vorliebe offenkundig unkundige Reisende um den Finger
wickelten. Wir hatten am ersten Tag auf der Insel in unserem Hotel seine Bekanntschaft gemacht, als er uns in ueberzeugend gutem Englisch eine ueberteuerte Bootstour andrehte. Nebenbei berichtete
John stolz von seiner 19-jaehrigen, bezaubernden Frau, die mit dem ersten gemeinsamen Kind schwanger und erst vor wenigen Monaten zu ihm auf die Insel gezogen war. Ich weiss noch, dass ich das
Maennlein mir gegenueber schon in diesem Moment staunend betrachtete und mich fragte, wie Liebe es immer wieder schaffte, sich ueber alle aeusserlichen Abwegigkeiten hinwegzusetzen und das Reinste im
Inneren der Menschen hervorzuholen.
Schon an normalen Tagen war John nicht gerade eine Augenweide. Sein halbgeoeffnetes Shirt legte den Blick auf eine bemitleidenswert magere Huehnerbrust frei, die Haelfte seiner braeunlich
angelaufenen Zaehne war ausgefallen, die restlichen wurden nur durch einen goldenen Draht am unteren Rand daran gehindert wurden, ihm ebenfalls den Rachen hinunterzurutschen. John hielt sich stets
gebueckt, den Hals unnatuerlich vorgestreckt, was seinen verschlagenen Ausdruck noch unterstrich.
Ich hatte John beim ersten Treffen auf Mitte 40 geschaetzt. Tatsaechlich war er erst 28.
Jens und ich hatten auf der Faehre zwei Plaetze reserviert, ein dritter war in der Reihe noch frei und auf den setzte sich nun ganz selbstverstaendlich unser neugewonnerer Freund. Seine Augen noch tiefer im eingefallenen Gesicht als sonst und waehrend ich ihn widerwillig von der Seite betrachtete, war ich mir sicher, dass etwas nicht stimmte. John lud Jens und mich zu unserem Erstaunen auf einen Kaffee ein und es schien, als haette er nur darauf gewartet endlich auf einen Zuhoerer zu treffen. Die Worte sprudelten aus ihm heraus, kaum dass ich meine Frage nach seinem Befinden zu Ende gestellt hatte.
Es war seine Frau, die ihm den Verstand zu rauben drohte. Die junge Schwangere hatte am selben Morgen heimlich einige Sachen zusammengerafft und war, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, auf und davon gelaufen. John, panisch vor Angst seine grosse Liebe fuer immer zu verlieren, hatte sofort seine Arbeit liegenlassen und ein Faehrticket auf das Festland gekauft. Dort lebten, unter sehr einfachen aber ordentlichen Verhaeltnissen, wie er uns beteuerte, seine Schwiegereltern und John war sich zu diesem Zeitpunkt noch sicher, dort auf seine Frau zu treffen.
Johns Telefon klingelte im Minutentakt, unruhigig rauchte der Unglueckliche Kette und beteuerte mit ruehrender Aufrichtigkeit, die jedes Herz erweichen musste, wie sehr er seine Frau liebe. Jens und ich blickten uns hilflos an, boten ihm abwechselnd unseren Reiseproviant an - den er jedesmal kopfschuettelnd ablehnte - und ueberhaeuften ihn mit aufmunternden Worten.
Unsere Bemuehungen zeigten Wirkung - wenn auch nicht die erwartete.
John hatte sich in den Kopf gesetzt uns mit zu seinen Schwiegereltern zu nehmen, die bislang aber, das gab er schliesslich zu, weder von seinem noch von unserem Unterfangen etwas wussten. Auf unsere abwehrenden Ausfluechte, wir muessten noch am selben Tag Vietnam verlassen, um weiter nach Kambodschda zu reisen, ging John nicht weiter ein. Mit dem bangen Gefuehl mitten in einem Familiendrama zwischen die Fronten zu geraten, willigten wir Jens und ich schliesslich halbherzig ein und erklaerten uns bereit John bei seiner Suche nach der verschwundenen Frau zu begleiten.
Was ihn bewogen hat uns einzuladen, ist fuer Jens und mich auch jetzt noch nicht ganz klar. Vielleicht spielte Gastfreundschaft tatsaechlich eine Rolle, doch wahrscheinlicher ist die Erklaerung, dass John das stille Warten nicht ertragen konnte und selbst die Gesellschaft zweier Fremder der stummen Verzweiflung vorzog.

Die Fahrt zu den Schwiegerelten dauerte den gesamten Nachmittag und als wir das Dorf erreichten, war es bereits finster.
Die letzten Kilometer bretterten wir auf Motorrad-Taxis an einem Kanal, einem winzigen Ableger des Mekong, entlang. Jens hatte das schlechtere Los gezogen: Auf seinem Moped zwaengten sich der Fahrer, John und Jens mit seinem Reiserucksack auf den Schultern. Bei jeder Bodenwelle fuerchtete ich, Jens vor mir stuerzen zu sehen, doch wir ueberstanden die Fahrt ins Niemandsland unbeschadet. Dieser Ort, soviel stand fest, war auf keiner unserer Landkarten verzeichnet.
Dann erreichten wir die Huette der Schwiegereltern.
Ich schuettelte den Kopf und musste doch schmunzeln. War das nicht die Art von Abenteuer, auf die jeder Rucksackreisende hoffte? Das wirkliche Leben am anderen Ende der Welt in dem ploetzlich eine Tuer aufging und man eintauchen durfte in das Fremde? Einen Happen mitessen in der guten Stube, eine Nacht verbringen dort, wo das Wort Tourismus keine Rolle spielt? Das hatten wir erreicht. Doch das flaue Gefuehl mitten im Schlamassel zu stecken wollte nicht weichen.
Unschluessig standen wir bepackt wie Esel am Gartentor, alleingelassen von John, der ohne uns ins Innere gestuermt war und trauten uns nicht, die letzten Meter in das
erleuchtete Hausschen zurueckzulegen.
Johns Schwiegereltern nahmen uns die Entscheidung ab. Sie kamen uns entgegen, packten uns am Arm und zogen uns leise murmelnd hinter sich her in ihr Zuhause.
Es war die Art von Behausung an der wir in den vergangenen sechs Wochen in Vietnam und Laos nun schon so oft vorbeigefahren waren und uns gefragt hatten, wie das Leben hier
wohl aussehen moege.
Das Haeuschen bestand aus einem einzigen Raum, der in der Mitte von einem geschmueckten Altar und einer Schrankwand in zwei Teile geteilt wurde. Wir sassen im vorderen Teil auf der Kante einer
Schlafstaette, die nicht mehr war als harte Holzdielen mit einem darueber gespannten Fliegengitter. Vor unseren Knien stand ein Holztisch, umgeben von blauen Plastikschemeln, dahinter gab es einen
weiteren Schlafplatz mit einem Fernseher. Auf dem Altar zu unserer Linken saeumten Blumenschmuck, Kerzen und Raeucherstaebchen das Bild eines jungen Mannes. Ich vermutete, dass er sich um einen
verstorbenen Sohn der Familie handelte, traute mich jedoch nicht John danach zu fragen.
Den Ungluecklichen hielt nichts mehr auf den Beinen. Nachdem klar war, dass seine Frau sich immer noch nicht bei ihren Eltern gemeldet hatte und der Abend fuer ihn die denkbar schlechteste Wendung nahm, hatte John der Mut verlassen und er kugelte sich im Ehebett ein, wandte uns den Ruecken zu und wimmerte leise vor sich hin.
Der Raum fuellte sich schnell. Johns Schwiegereltern hatten uns gegenueber auf der zweiten Schlafstaette Platz genommen und schienen genau wie wir nicht recht zu wissen, was als naechstes zu tun sei. Von draussen stroemten Nachbarn mit ihren Hunden heran, ein Ehepaar, eine Mutter mit ihrer Tochter, drei kleine Jungen. Sie draengten sich im Eingang des Hauses zu unserer Rechten, lachten zu uns herueber und schienen ebenso aufgeregt, wie wir selbst. Hinter dem Altar erschien ein weiteres Familienmitglied. Die Grossmutter der Familie musste uralt sein. Sie reichte mir gerade bis zur Brust, ihr hellgraues Haar war sorgsam im Nacken zu einem Knoten gebunden und die dunklen Augen blickten wach in unsere Richtung. Ich konnte den Blick nicht von der alten Frau wenden, die sich nur zoegerlich entschliessen konnte, hinter der Schrankwant hervorzukommen und sich zu den anderen im Zimmer zu gesellen.

Was folgte ist ein Abend, den wir uns schoener uns absurder nicht haetten wuenschen koennen.
Die Familie tuermte auf dem Tisch alles, was sie auf die Schnelle auf dem Markt hatten bekommen koennen. Reissuppe mit Schwammpilzen, Chips, rohe Sojasprossen, zwei ganze gekochte Huehner samt Kopf und Krallen, Erdnuesse, frische Mange, Passionsfrucht und literweise Bier. Der Schwiegervater versorgte Jens und mich ruehrend und trug persoehnnlich Sorge dafuer, dass die besten Fleischstuecke, zu denen offensichtlich auch Leber und Fettschwate gehoerten, auf unseren Tellern landeten. Ich konnte kaum einen Schluck trinken, ohne dass mir jemand nachschenken wollte und Jens und ich bekraeftigten nachdruecklich wie gut es uns schmeckte, in dem wir lachend auf unsere dicken Baeuche zeigten.
Das Essen haette fuer die gesamte Nachbarschaft gereicht, doch ausser Jens und mir ruehrte kaum jemand etwas an. John hatte sich, die herannahenden Schuesseln witternd, nur weiter in sein Elend verkrochen und streichelte seit einer halben Stunde ein knittriges Foto der Verschollenen, das er mir nicht zeigen wollte. Ausser John schien die mysterioese Abwesenheit der verlorenen Tochter niemanden weiter zu stoeren und so beschlossen auch Jens und ich stillschweigend, das beste aus dem unverhofften Familienfest zu machen und John ausser gelegentlichen Nachfragen mit seinen Gedanken alleinzulassen.
Es waren an die drei Stunden, die wir stauend, kauend und haenderingend gestikulierend in der kleinen Stube verbrachten.
Als es Zeit war uns schlafen zu legen, verrichteten Jens und ich unsere Abendtoilette im Garten des Hauses, denn die Familie hatte weder ein Badezimmer noch fliessend Wasser.
Es dauerte ewig, bis ich neben Jens im Ehebett einschlafen konnte, das John schliesslich geraeumt hatte, um sich mit seinem Handy und dem Foto seiner grossen Liebe in den dunklen Garten zu verziehen.
In der Nacht klingelte sein Handy noch drei Mal und riss mich jedes Mal aus dem Schlaf, doch als wir uns im Morgengrauen schliesslich aus dem Bett quaelten, reichte ein Blick in Johns zerfurchtes Gesicht um zu wissen, dass es keine Neuigkeiten gab.

"It is over", verkuendete John noch vor dem "Good Morning, my friends". John, ein Schatten seiner selbst, teilte uns mit duennem Stimmchen mit, er werde seine Frau verlassen.
Jens und ich taetschelten ihm ein letztes Mal die Schulter bevor wir uns auch von den Schwiegereltern und der Grossmutter verabschieden mussten. Die schuechterne alte Frau bestand darauf, auf dem Abschiedsfoto meine Hand zu halten.
Nur ein einzelner Abend und eine verrueckte Geschichte ueber deren Ausgang Jens und ich wohl niemals etwas erfahren werden. Vielleicht finden sich der weinende John und seine grosse Liebe wieder? Vielleicht auch nicht.
Fuer Jens und mich wird diese unwirkliche Begegnung auch ohne Gewissheit unvergessen bleiben.

06 Januar 2007, Immer noch Phu Quoc, JETZT ABER MIT WASSER IM MUND
Wir kommen hier nicht weg. Erst haben wir verpasst uns rechtzeitig ein Flugticket zu sichern, nun fahren die Faehren aufs Festland wegen Riesenwellen nicht. Und waehrend aufgeregte Kurztrip-Touristen mit dem selben Schicksal nun den Schalter von "Vietnam Airlines" belagern, sind Jens und ich achselzuckend von dannen getrottet. Dann bleiben wir halt noch.
Und ich finde es super. Und das liegt auch an Klaus.
Der hat einen Bierbauch, ist bis ins Mark blau-weiss eingefaerbt und hat gleich neben unserem Resort einen "German Biergarten" aufgemacht. Seine Frau kommt von hier, ist 30 Jahre juenger, hochschwanger und wenn Klaus nicht gerade auf die vietnamesischen Schlitzaugen schimpft, macht er das beste Sauerkraut auf Phu Quoc. Und natuerlich das einzige.
Klaus laesst alles einfliegen: Hengstenberg Senf, Weisswurst, Krakauer, Schweinshaxen und deutsche Markenbutter. Zu Hause haette ich um sein zuenftiges Bierlokal wohl einen grossen Bogen gemacht aber hier ist ein Besuch bei ihm schoener, als jeder Strand. Zumal es gerade regnet.
Also auf Klaus! Und auf mindestens 3 weitere Tage Phu Quoc.

31. Dezember 2006, Phu Quoc, Trauminsel im Sueden von Vietnam, SILVESTER VORNE WEG
Happy New Year! Yeahhhhhhhhhhhhhh!
Wir sind die Ersten in 2007 und ich bin das erste Mal seit Ewigkeiten voll. 6 Stunden vor euch feiern Jens und ich zusammen mit zwei Hamburgern (die sind echt ueberall) in unserem Strandresort ins neue Jahr.
Wir sind nach 4 Tagen Saigon nun gerade auf Phu Quoc, einer Insel, von der ich bis vor zwei Wochen nicht mal wusste, dass es sie gibt. Nun planschen wir hier im tuerkisblauen Meer und wundern uns, woher all die anderen Touristen diesen Geheimtipp haben. Denn das ist Phu Quoc mit seinen endlos langen Sandstraenden, dem warmen, sauberen Wasser, den freundlichen Vietnamesen (hier hatten sie sich versteckt) und den guenstigen Riesengarnelen.
Und hier geht ein super Jahr 2006 zu Ende mit literweise "Cocolocco" (so heisst laut Max, dem Barmbeker, die Mischung Rum mit Kokusnussmilch).
Um 15 Sekunden vor Mitternacht fangen wir an den Countdown zu zaehlen und springen ins Meer.
So kanns weitergehen in 2007!

24. Dezember 06, Sueden von Vietnam, Saigon, WEIHNACHTEN!
So ist das also. Das erste Mal Weihnachten allein in der Ferne ist viel lustiger, als ich gedacht hatte. Ich habe eine Troete im Mund, auf dem Tisch zwischen Jens und mir stehen Luftballons, die uns die Sicht aufeinander versperren und die Kellner im Restaurant unserer Wahl tragen Papphuete mit Tiergesichtern.
Uns bedient heute der Vogel.
Wir sitzen im 32. Stock des hoechsten Gebaeudes der Stadt, Panaramoblick inclusive. Unter uns feiert auch das erleuchtete Saigon Weihnachten. Tatsaechlich gibt es hier mehr Christen, als wir gedacht hatten. Aber X-Mas in Vietnam heisst auch einfach Spass haben, ausgehen, Konfetti schmeissen und so sind heute auch viele unterwegs, die einfach einen drauf machen.
Jens und mir kommt das gelegen. Nachdem man die Besinnlichkeit einmal hinter sich hat, zelebriert es sich ganz ausgelassen.
Der Vogel bringt uns Free Softdrinks und aus den Restaurant-Lautsprechern schallt "Last Christmas" in der Raggaeversion. Nach und nach schleppen wir das halbe Buffet an unseren Tisch. Es gibt Riesenscampi und Bouillabaise, Truthahn, Wild und 1001 Reisgericht. Aber ich staple zuerst Pizza, Spaghetti Bolognaise und Broetchen auf meinem Teller. Sowas haben wir seit 6 Wochen nicht mehr gegessen.
Und dann bekomme ich doch noch ein Geschenk. Jens hat mir Staebchen aus Edelholz gekauft. Das war so nicht verabredetet. Wir wollten uns nichts schenken. Und ich sitz nun da. Ohne was. Weihnachten diesmal ganz anders, aber irgendwie eben doch, wie immer.

22 Dezember 06, Hauptstadt Hanoi im Norden des Landes, ENTSETZEN IST RELATIV
Jens sagt: ”Du darfst nicht alles so Schwarz sehen. So schlimm ist es gar nicht.”
Ich sage: ”Doch.”
Noch ein Tag, dann sind wir hier wieder weg.
Der Verkehr bringt einen um. Nicht nur sprichwoertlich. Jeden Monat sterben in Vietnam 1000 Menschen zwischen Mopedabgasen und Autoreifen.
Das Wetter ist immer noch mies. Dafuer kann keiner was, aber ich habe nur einen Pullover dabei und den kann ich nicht mehr sehen.
Die Menschen machen mich nicht mehr traurig, sondern wuetend. Die alte Frau mit den schweren Koerben, die Masseuse, der Busfahrer, die junge Wasserverkaeuferin – jeder mit dem ich zu tun habe, zieht mich ueber den Tisch.
Touristen sind in Hanoi nicht willkommen, sondern geduldet.
Ich schaeme mich ein bisschen fuer das vernichtende Urteil, aber morgen geht es weiter nach Saigon und dann gebe ich Vietnam gerne eine zweite Chance.
Und dann ist erstmal Weihachten...